Geschichte – Storia


Die Entwicklung der Cooperativa Nelson Mandela eG aus der Sicht von Steffi

Manchmal entstehen die besten Dinge durch Zufall.

Nach dem Abitur habe ich mich um einen Platz im Europäischen Freiwilligendienst beworben. Die Vermittlungsstelle schickte mich in den tiefsten italienischen Süden Italiens in den kleinen Ort Gioiosa Ionica an der ionischen Küste Kalabriens. Ich arbeitete in einer kleinen Comunità und lernte dort neben vielen weiteren lieben Menschen, die später Freunde wurden, auch Maurizio Zavaglia kennen. Ich lernte die Sprache sprechen und die herzlichen Menschen, die wunderschöne Landschaft, das leckere Essen, das türkise Meer, das unvergleichliche Eis und die rauen Berge lieben. Wieder zurück in Deutschland hielt ich weiter Kontakt mit vielen italienischen Freunden und Urlaube fühlte sich immer wie die Rückkehr in eine zweite Heimat an. Facebook war eine enorme Unterstützung, am Leben der weit entfernten Freunde doch etwas teilhaben zu können.

Im Jahr 2017 postete Maurizio, dass er eine Kooperative gegründet hätte und nun Olivenöl produziere. Die Kooperative hat sich die Integration von Flüchtlingen, Sträflingen und jungen Arbeitslosen zur Aufgabe gemacht. Kalabrien zählt zu den wirtschaftlich schwächsten Regionen, die stark von der Landwirtschaft geprägt, aber auch von mafiösen Strukturen durchzogen ist. Olivenhaine und Zitrusplantagen nach ökologischen Standards zu bewirtschaften und die Mitarbeiter fair zu behandeln ist leider eher eine Ausnahme in der Orangen- und Olivenölproduktion.

Ich fragte Maurizio also – eher aus Spaß – ob er mir eine Flasche Olivenöl schicken könnte. Hatte ich doch den besonderen Geschmack des Olivenöls noch sehr präsent und ein ähnlich gutes Öl hier in Deutschland nie erwerben können. Er sagte sofort zu und ich fragte im Freundeskreis herum, ob noch jemand Interesse hätte. Verschiedene Nachbarn und Freunde sagten zu. Der Imker im Dorf fragte, ob Maurizio auch Orangen anbieten könnte.

Maurizio: „Ja, natürlich! Ich habe Orangen, Mandarinen, Bergamotten…!“

Unter meinem Carport wurden in den nächsten zwei Wintern bei Minusgraden Kleinstmengen ausgewogen, sortiert und zur Abholung bereit gestellt. Jeder, der etwas kaufte, war von der Geschmacksintensität begeistert und empfahl die Produkte weiter, so dass die Käufergruppe langsam, aber stetig anstieg. Die Philosophie der italienischen Kooperative war allen bekannt und wurde stets kommuniziert. Dieses Wissen, gepaart mit der außergewöhnlich guten Qualität der Produkte zu fairen Preisen machte viele Käufer zu Stammkunden, die ihrerseits weiter Werbung machten. Viele sagten mir, ich solle doch Geld nehmen, für das was ich mache. Dies fühlte sich für mich immer falsch an. Ich wollte gerne der Kooperative in Italien helfen und es war mir Lohn genug, dass ich die Menschen hier mit dem Verteilen von gesunden Leckereien glücklich machen konnte.

Aber irgendwann kam ich an meine Grenzen. Ich musste Urlaub nehmen, um alles alleine abzuwiegen. Der Transporter mit den Waren kam zu den unmöglichsten Zeiten an und war nicht zu planen (ein Problem, was uns leider auch heute noch beschäftigt). Einmal war im Transporter die ganze Palette umgekippt und Mandarinen, Clementinen, Orangen und Kiwis rollerten durch den LKW in meine Einfahrt. Der Fahrerin und mir war nicht gerade nach lachen zu mute. In dieser Zeit kam Ludwig zu Hilfe, der mich zunächst nur beim wiegen und verteilen unterstützte. Wir befanden dann, dass es gut wäre, wenn Maurizio selbst zum verkaufen nach Deutschland kommen sollte. Damit sich die lange Fahrt auch lohnte, rührten wir und einige unserer Freunde kräftig die Werbetrommel. Jeder hatte eine lange Bestellliste für alle möglichen Freunde, Kollegen und Nachbarn. Einige bestellten auch direkt an ihre Wohnorte, z.B. in Meißen und verteilten dort die Waren.

Da es sich aber als einen enormen Aufwand für uns herausstellte, die Bestellung jedes einzelnen („Ich hätte gerne 5 kg Orangen, 2 kg Mandarinen und 2 Zitronen“) abzuwiegen und vorzubereiten änderten wir in der nächsten Saison nochmals das System. Wir informierten alle Freunde, Nachbarn, Kollegen und Interessenten über eine WhatsApp-Gruppe über zwei bis drei Verkaufstage pro Saison und verlegten die Verkäufe komplett in Ludwigs Scheune.

Ich bin unendlich dankbar über eine grenzenlose Hilfsbereitschaft aus dem ganzen Dorf. Viele halfen mit und jeder konnte etwas beisteuern: entweder etwas zu essen für alle Helfer oder auch einen Gabelstapler oder einfach reine Muskelkraft beim Entladen der Paletten. Inzwischen war die Nachfrage so groß geworden, dass mehrmals in der Saison 40 t LKW in Großdobritz ankamen. Ein rumänischer Fahrer schaffte es sogar einmal, rückwärts in den Dreiseithof bei Ludwig einzuparken.

In dieser Zeit bildete sich eine feste Helfergruppe im Freundeskreis. Es galt, Garagen und Scheunen leer zu räumen, Zelte für den Verkauf aufzubauen, Heizlüfter ranzuholen, heiße Getränke bereit zu stellen und die Feuerschale vorzubereiten. Ludwigs Frau und auch seine Mutter kochten Mittagessen für die Helfer im Verkauf, die nicht selten Eis-Füße von mehrstündigen Verkaufsschichten hatten. In diesem Winter 2022 gab es beim vorweihnachtlichen Verkauf keine Parkplätze mehr im Dorf. Die Kunden standen in mehreren Schlangen über den ganzen Hof und haben teilweise Wartezeiten von mehr als einer Stunde in Kauf genommen. Jeder nahm noch etwas für Freunde und Verwandte mit.

Obwohl wir viel bestellt hatten, waren die Orangen – wie so oft – als erstes alle. Schwierig war es generell, immer für den richtigen Nachschub zu sorgen. Einmal waren die beliebten Liköre genau zum Weihnachtseinkauf alle, ein anderes Mal fehlte zuerst das Olivenöl, dafür gab es noch mehr als genug Kiwis. Zum Glück nahmen dies die meisten der Kunden, die nun schon lange nicht mehr nur aus Freunden bestanden, sondern aus allen umliegenden Dörfern kamen und teilweise noch weitere Anreisewege hatten, mit Humor. Wir haben immer betont, dass wir alle unentgeltlich tätig sind und eine gute Sache unterstützen wollten.

Probleme, mit denen wir immer wieder zu kämpfen hatten: es waren entweder zu wenig oder zu viele Orangen da, der Vorrat an Olivenöl und Likören war zu schnell alle, dafür gab es noch eine Menge Kiwis oder Zwiebeln. Die LKW kamen nie zu der Zeit an, die sie versprochen hatten und alle Helfer zum entladen warteten entweder lange oder waren noch gar nicht bereit. Die drei Verkäufe im Winter waren immer gut besucht, aber viele Kunden sicher auch abgeschreckt von den langen Wartezeiten. Die Helfer kamen an ihre Grenzen und Ludwigs Mutter wurde mehr als einmal aus der Badewanne geholt, weil jemand irgendwann auf dem Hof stand und bei ihr nach Olivenöl klingelte.

Also mussten wir uns wieder verändern und anpassen. Im Herbst 2023 bot ein Freund die Räumlichkeiten im ehemaligen Konsum in Reinersdorf als Verkaufsraum an. Wie ein Lauffeuer sprach sich in den umliegenden Dörfern herum, dass es in Reinersdorf zwei mal pro Woche leckere Orangen und andere Südfrüchte gibt.

Ab Januar startete Maurizio Verkäufe bei Freunden und Bekannten von uns quasi vor deren Haustür: in Jahnishausen, in Kmehlen, in Zehren, an drei verschiedenen Stellen in Dresden, in Großdobritz am Fleischer, in Meißen und in Bärnsdorf. Zwischendurch lieferte er Orangen und Olivenöl bis nach Chemnitz, Kreischa, Brandis und Berlin.

Im Januar fragten wir in unserer großen WhatAapp-Gruppe, die mittlerweile auf über 500 Personen angewachsen war, nach Unterstützung und es meldeten sich zum Glück drei kompetente Personen. Gemeinsam mit ihnen sammelten wir nochmals Informationen in Bezug auf eine mögliche Vereinsgründung, die Eröffnung einer Zweigstelle und entschieden uns letztendlich zur Gründung einer deutschen Genossenschaft. Am 05. September 2024 haben wir unsere Gründungsversammlung abgehalten und haben nun 20 Mitglieder. Wir tragen den gleichen Namen wie unsere italienische Schwesterngenossenschaft. Ziel ist es, die italienische cooperativa in Gioiosa Ionica noch kompetenter unterstützen zu können.

Es ist der cooperativa in Italien eine Herzensangelegenheit, den Menschen für ihre Arbeit einen fairen Lohn zu zahlen, faire Arbeitsbedingungen zu schaffen und ihr Land mit der nötigen Rücksicht auf nachfolgende Generationen zu bewirtschaften.

Wir möchten auch weiterhin über die Zustände in italienischen Flüchtlingscamps informieren (in denen die Migranten leben, die für die deutschen Supermärkte als Tagelöhner und ohne Krankenversicherung Tomaten und Orangen pflücken) und moderne Sklaverei auf Europas Plantagen. Auf dem Foto seht ihr ein Zelt, in dem mehrere Menschen zusammen leben müssen. Sie teilen sich mit vielen anderen ein paar wenige Toiletten und zwei Wasserhähne. Dieses Camps befindet sich irgendwo neben der Schnellstraße bei Rosarno, aber weit ab von der nächsten Ortschaft.

Wir möchten euch noch besser und zuverlässiger mit den leckeren Produkten versorgen und in unseren kalten Winter ein bisschen italienische Sonne zu bringen. Wir möchten den Austausch zwischen den Ländern fördern und neue Freundschaften schließen. An dieser Stelle möchte ich noch Ludwig zitieren, der folgendes zu Papier brachte: „Dem (heutigen Stand) vorausgegangen sind sieben lehrreiche Winter, geprägt von Neugierde, Enthusiasmus, hoher Bereitschaft, anstrengenden gemeinsamen Verkaufstagen, Erschöpfung und Rückenschmerzen, vom Google-Übersetzer geprägten wundervollen Küchenabenden, italienischen Lieferbedingungen, deutschen Pedantismus, von neuen Freundschaften, vom unermüdlichen Ernteeinsatz, von Alpenüberquerungen ohne Autoheizung, von Lungenentzündungen, Krankenhausaufenthalten, unglaublicher Hilfsbereitschaft, europäischen Verständnis und vor allem ein gemeinsam gelebtes Europa mit offenen Armen für alle Menschen.“

Wir freuen uns auf eine neue Orangen-Saison 2024/2025 im neuen organisatorischen Gewand einer Genossenschaft, auf neue Freundschaften, neue Begegnungen mit euch und natürlich auf leckere italienische Köstlichkeiten.